12. Juli 2022 | Allgemein

VON GOTT HINGERISSEN SEIN | Rückblick BEWEGT Konferenz 2022

Cordula Lindörfer trägt die Impulse der Rednerinnen und Redner auf der BEWEGT Konferenz 2022 zusammen. Diese beschreiben den Zeitgeist als Chance für Menschen, die Jesus nachfolgen, um in der Sendung Gottes wach und aufgeschlossen das Evangelium von Jesus Christus ins Gespräch zu bringen. Und dadurch nah an den Menschen dran zu sein, die noch nicht Teil der christlichen Gemeinschaft sind.

Da wurde den Teilnehmenden der Bewegt Konferenz ganz schön was zugemutet! Zum Auftakt der zweitägigen Tagung, die vom 13. bis 14. Mai 2022 in Bonn stattfand, lud der Veranstalter – die FeG Inland-Mission – die Zeitgeistforscherin Kirstine Fratz ein. Die junge Ethnologin, die auch Gucci, Escada, Dolce & Gabbana und Unternehmen wie Beiersdorf, Unilever, Procter & Gamble berät und Expertenanfragen von Google, Facebook und aus dem politischen Umfeld erhält, forderte alle Anwesenden heraus: „Folgt der Sehnsucht. Haltet nicht an Altem, Gesetztem fest, sondern seid radikal empathisch mit den Sehnsüchten der Menschen.“

Zeitgeist als Chance

Mit überzeugenden Beispielen zeigte die säkulare Forscherin auf, dass nicht der Zeitgeist böse ist, sondern gerade das Festhalten an erstarrten Formen und veralteten Kultursystemen viel Leid mit sich bringen kann. Wer etwas bewegen möchte, so ihre These, brauche Entwicklungsgroßzügigkeit: Es gelte, sich zu verabschieden von einer festen Vorstellung, wie etwas werden soll. „Was wäre“, so die herausfordernde These, „wenn jede vernünftige Momentaufnahme nur eine kulturelle Entwicklungsstufe darstellt?“ Das ließe uns offen fragen: Was ist im Werden? Wo entsteht ein neues kulturelles Feld der Sehnsucht, das uns auf eine andere Ebene bringt? Dem gelte es zu folgen, in dem Wissen, dass das, was jetzt besteht, ebenso Stückwerk sei, wie das Neue, das entstünde. Dass alles Teil eines großen Ganzen sei, das wir nie ganz würden fassen können.

Dieser denkwürdige Auftakt gab ausreichend Gesprächsstoff für die 150 Teilnehmenden, die sich aus Studierenden sowie Menschen aus bestehenden Gemeinden und Gemeindegründungen zusammensetzten. Manche Gemeinden haben die Konferenz als Teaminspiration gewählt, andere sandten Einzelne aus, um neue Inspiration mit nach Hause zu nehmen.

Zukunft proaktiv gestalten

Mit der erstmalig stattgefundenen Konferenz wollten die Verantwortlichen Sascha Rützenhoff, Andreas Scholz und Dirk Arendt Menschen ermutigen, Dinge im Alltag und in der Gemeinde neu auszuprobieren, damit mehr Menschen Jesus kennenlernen und um die Zukunft der Gemeinde und der Gesellschaft proaktiv zu gestalten. Damit das gelingt, gilt es, auch mal aus dem Aquarium zu klettern und sich selbst und die Kirche von außen zu betrachten.

Dafür war Oleg Dik zuständig, Professor für urbane Theologie aus Berlin. In seinem Vortrag stellte er zwei soziologische Theorien anhand von alltäglichen Bildern vor, die beschreiben, wie Menschen Religion (er)leben. Während früher die Kirche alle Lebensbereiche durchdrang, sei sie heute nur noch ein Stück des Kuchens, so fasst Dik die Theorie Max Webers zusammen. Kirche sei ein Subsystem, das auf bestimmte Fragen reduziert werde. Vorteil dieses theoretischen Systems sei es, dass man sich aktiv für die Teilnahme entscheiden könne. Man gehöre nicht mehr wie früher ohne Wahl dazu. Gleichzeitig bringe diese Theorie auch eine Atemlosigkeit mit sich, weil Kirche gern in allen Bereichen des Lebens relevant sein möchte und damit in den Wettbewerb mit weltlichen Dienstleistern trete. „Können wir als Kirche mithalten mit den professionellen säkularen Angeboten?“, fragte der urbane Theologe.

Von Gott hingerissen sein

Diesem Bild des Kuchenstücks stellte Dik das Bild eines Eis gegenüber. Jede Gesellschaft habe einen religiösen Kern – das Eigelb –, der ausstrahle und alle Bereiche durchdringe. Um welchen Gott es sich handle, das wandele sich ständig. Oleg Dik sprach von der Götterdämmerung – der eine Gott geht, der nächste kommt. Dieser Kern bestimme die Rituale und Geschichte der Gesellschaft. Aktuell sei unser Mittelpunkt „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – ein aus dem biblischen Menschenbild resultierender Kern. Deswegen sei unsere Gesellschaft individualistisch geprägt. Wie positioniert sich Kirche in diesem Gesellschaftssystem, das auf Emil Dürkheim zurückgeht? Wie gestaltet sie selbst Gemeinschaft? Indem sie sich auf ihren Kern besinnt: „Wir sind Kirche, weil wir Gott anbeten. Niemand kann das so gut wie wir“, so der urbane Theologe.

Oleg Diks Vortrag überzeugte nicht bloß durch theoretische Grundlagen, sondern auch durch die praktischen Beispiele aus seiner Erfahrung als Gemeindegründer in Berlin Wedding. So erzählte er von Leroy, einem Einwohner Weddings, der viel Zeit auf einer Parkbank verbringt. Ständig kommen Menschen zu ihm und suchen seine Nähe. Und das, obwohl Leroy – anders als Oleg Dik selber – keine Gesprächstermine vereinbart. Inspiriert von diesem Menschen fragte Dik sich und uns: Reicht es vielleicht aus, innezuhalten, hingerissen zu sein von Gott, um Menschen auf den Kern, auf Jesus selbst, aufmerksam zu machen? Mit dem Statement „Einfach vor Gott sein und neu die Souveränität Gottes entdecken, ist vielleicht gerade für uns beschäftigte Freikirchler besonders wichtig“, plädierte Oleg Dik für das zweite soziologische Bild von Kirche.

Gesprächskultur pflegen

Die BEWEGT Konferenz wollte nicht nur inhaltlich inspirieren. Der Veranstaltungsort – die Kirche für Bonn – war hip gestaltet, die Gastfreundschaft der Leute vor Ort ehrlich und einladend. Die Lobpreismusik der Gemeindegründung Mosaikkirche Gießen führte authentisch und emotional in die Begegnung mit Gott. Der Singer-Songwriter Jan Jakob gestaltete die Atmosphäre, sodass man am liebsten seine besten Freunde einladen wollte, um ihm gemeinsam zuzuhören. Die Konferenzteilnehmer waren nicht Publikum, sondern wurden durch Gespräch miteinander oder Rückfragen an die Speakerinnen und Speaker zur Interaktion eingeladen.

Überhaupt standen nicht nur Menschen auf der Bühne, die Erfolg ausstrahlten, sondern das Scheitern, die Fragen, die Zweifel, die Lernerfahrungen gerade aus Fehlern wurden ebenso verkündet wie kluge Theorien. Der Foodtruck mit selbstgemachten Burgern, die nachhaltige Limonade – es sind diese Kleinigkeiten, die die Zukunftsabsicht der Konferenz auch glaubwürdig machten. „Es geht um eine neue Kultur in unseren Gemeinden“ so fasst es Dirk Arendt zusammen. „Eine E.Kultur. Nicht mal eben für die Außenstehenden ein evangelistisches Programm machen, sondern die komplette DNA einer Gemeinde so zu gestalten, dass man die Missio Dei – die Sendung Gottes – in allen Bereichen spürt.“ Wie das geht? „Ganz sicher nicht von allein.“ So der realistische Kommentar von Sascha Rützenhoff. „Jede Organisation wird automatisch zur Subkultur, in der eine eigene Sprache vorherrscht und es Menschen von außen schwer haben, hineinzukommen. Es braucht jemanden, der die Stimme erhebt für die, die noch nicht da sind. Das ist Leitungsaufgabe.“

Zu den Menschen bewegen

Es sind solche kraftvollen, den Nerv der Zeit treffenden Zitate, die bleiben. Am Ende der Konferenz sandte Pastor und Gründer Markus Schmidt die Teilnehmenden zurück nach Hause – in ihre Gemeinden, aber auch in ihren Wirkungskreis, sei es auf Arbeit, im ehrenamtlichen Engagement, in der Familie. Denn, so sein Learning als erfahrener Gemeindeleiter: „Ich sorge mich nicht, wenn keiner mehr kommt. Sondern es bereitet mir Sorgen, wenn keiner mehr zu den Menschen geht.“

Weitere Infos: bewegtkonferenz.de

Cordula Lindörfer | Pastorin StartUp Kirche Eisenach | startup-kirche-eisenach.de